Frühe Sprachentwicklung: Die ersten 24 Monate

Wie geht es los mit dem Sprechen?

Wie geht es los mit dem Sprechen?

Der Artikel erklärt die sprachliche Entwicklung von Kindern bis zu Ihrem 2. Lebensjahr. Er kombiniert Videos, Podcasts und weiterführende Links, um eine umfangreiche Übersicht zum Thema Sprachentwicklung zu geben:

  1. Du erfährst anhand theoretischer und praktischer Beispiele wie sich dein Kind in den ersten 24 Monaten sprachlich entwickelt und wie du es dabei unterstützen kannst

  2. Wir zeigen dir Beispielvideos anhand derer du die ersten Sprechversuche deiner Kinder einschätzen kannst

  3. Wir verlinken Podcast-Episoden, in denen wir über wichtige Meilensteine deines Kindes und von Erfahrungen aus unserem Alltag sprechen

  1. Ihr Baby: Die ersten 12 Monate

Das ist die Frage, die sich alle Eltern stellen, die vor ihren Babys sitzen, Rasseln schwingen, Quietschegiraffen drücken und Bäuchlein massieren. Mein Mann Frank hat mir gerade gestern Abend wieder erzählt, wie schwer ihm diese erste Zeit nach der Geburt unseres Sohnes fiel. Wann beginnt denn das Kind zu kommunizieren, was sind typische Äußerungen? Was ist denn ein Wort?

Darum wollte ich im heutigen Blogpost kurz zusammenfassen, welche Phasen die Kinder durchlaufen und was wir in diesen Zeiten beobachten können. Passend dazu findet Ihr hier auch unseren Podcast Logopädie kompakt! Da teilen wir unsere Erfahrungen als Logopädinnen und wie wir diese Zeit mit unseren Kindern erlebt haben.

Der Einfachheit halber spreche ich hier im Blog von Eltern, Müttern und Vätern, gemeint sind aber natürlich alle Bezugspersonen/Sorgeberechtigten eines Kindes. Alle, die sich um die kleinen Wonneproppen kümmern und ihnen ihre Zeit, Liebe, und Geduld schenken. Die, die mit ihnen lachen, weinen, schreien, quietschen und rumtoben :-).

Und bitte bedenkt beim Lesen: die Altersangaben, die hier gemacht werden, bieten eine grobe Richtlinie. Kinder entwickeln sich alle unterschiedlich.

Entwicklungsverläufe eines Kindes entsprechen auch nicht einer immer gleich ansteigenden Linie. Mal haben wir das Gefühl das Kind lernt über Nacht und man glaubt ein anderes Kind vor sich zu haben, mal warten wir Wochen auf einen neuen Entwicklungsschritt. Wichtig ist, sich nicht verrückt zu machen und achtsam zu beobachten. Solltet ihr euch Gedanken machen, tragt diese Sorgen nicht mit euch rum. Folgt eurem Bauchgefühl und fragt lieber nach, wenn ihr verunsichert seit. Tauscht euch mit Freunden oder anderen Eltern aus, sprecht mit eurem Kinderarzt oder holt euch Rat bei nichtärztlichen Fachleuten (z.B. Logopäden, Sprachtherapeuten).

Schmatzen geht immer - die vorsprachliche Phase der Sprachentwicklung

Die ersten Monate der Sprachentwicklung werden auch als vorsprachliche Phase beschrieben, weil die Äußerungen der Kinder noch nicht an eine Bedeutung gebunden sind (vgl. Yavas, 1998). Wenn Babys quietschen oder “ba” sagen, dann wollen sie damit noch kein Spielzeug benennen oder die Oma bitten, ihnen das Kuscheltier zu geben.

Die ersten Äußerungen, die wir beobachten können, sind z.B. vegetative Laute, dazu zählen das Schmatzen oder Rülpsen oder reflexartige Reaktionen, wie z.B. das Niesen, wenn die Nase kribbelt.

Es schreit, es schreit, was hat es nur?! - Das Schreien als Teil der Sprachentwicklung

Das Schreien gehört natürlich auch zu den allerersten Äußerungen. Hier lernen Eltern ganz schnell, dass es verschiedene Formen des Schreiens gibt. Mal drückt der Bauch, mal beschwert es sich über das grelle Licht im Gesicht. Grob kann man zwischen dem “Normalschrei” und “Schmerzschrei” unterscheiden. Spannend dabei ist, wie Mampe und seine Kollegen (2009) in ihrer Studie herausfanden, dass die Sprachmelodie des Normalschreis abhängig ist von der Muttersprache. Das französische Kind schreit also anders als das deutsche! Hier wird deutlich, wie früh Babys schon ihre Umgebungssprache lernen wahrzunehmen und wie sich dies auf ihre Äußerungen auswirkt.

Wer mehr darüber erfahren möchte, dem empfehle ich den TED Talk von Patricia Kuhl anzuschauen. Er ist zwar auf Englisch, aber mit deutschem Untertitel und deutschem Transkript. 

Probieren geht über Studieren - die Lautentwicklung

Während der ersten Monate der Sprachentwicklung lernen die Kinder willentlich Laute zu produzieren. Sie haben Freude am Ausprobieren, Spielen mit der Zunge, ihren Lippen und sie schaffen es ab ca. 3-4 Monaten Vokale (a, e, i, o, u) zu produzieren .

Und was auch geschieht, auf was die Eltern sehnlichst gewartet haben: die Kinder fangen an hörbar zu lachen. 

Das Experimentieren geht los - es darf gelallt werden

Mit ca. 5-6 Monaten geht es dann so richtig los mit dem sogenannten Lallen. Grob werden zwei Lallphasen unterschieden (wer mehr und Genaueres erfahren will, der findet hier detaillierte Informationen: Fox-Boyer & Schäfer, 2015; Natani, Ertmer & Stark, 2006).

Während der ersten Lallphase wird kräftig mit Tönen experimentiert, sie ändern die Lautstärke und Tonhöhe, dass es auch schon mal im Ohr der Eltern klingelt, und wir hören erste Kombinationen von Konsonanten und Vokalen (z.B. “ma” und “ba”). Diese Produktionen sind “universal”, d.h. alle Kinder sind in der Lage alle Laute dieser Welt zu produzieren. In der zweiten Lallphase (ab ca. 9 Monaten) werden die Konsonant-Vokal-Äußerungen länger (z.B. “gagaga”) und schließlich vielseitiger (z.B. “bagadidi”).

Während dieser Zeit passen sich die Äußerungen nun auch der Umgebungssprache an, es wird also auf persisch, russisch oder japanisch munter gebrabbelt. Und das ist auch gut so, denn eine Überblicksstudie von Morris (2010), die sich verschiedene Forschungsarbeiten zum Thema Lallen angeschaut hat, fand heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen Lallen und der späteren Sprachentwicklung gibt. Zweijährige Kinder, die im Vergleich zu Gleichaltrigen wenig sprachen, zeigten zuvor geringeres Lallen (siehe auch Fasolo et al., 2008). 

Da ist es, das erste Wort! - die Sprachentwicklung kommt in Fahrt

Um das erste Lebensjahr herum fiebern alle Eltern nun endlich dem Moment entgegen, an dem ihr Baby das erste Wort äußert. Dabei sind diese ersten Wörter gar nicht so einfach herauszuhören. Viele hören sich nämlich genauso an wie das Lallen. Eines der ersten Wörter meines Sohnes war “Babe”, eine Lautkombination, die wir schon Monate zuvor gehört hatten. Was macht eine solche Lautkette denn nun zum Wort? Nun, Ragnar sprach das Wort immer, wenn wir auf dem Bett saßen und das Spiel “Lampe ein, Lampe aus” spielten. Er ordnete also das Wort “Babe” immer dem Objekt Lampe zu. Und er fing systematisch damit an, diese spezielle Lautkette mit der Bedeutung “das Ding, was Mama immer ein- und ausmacht” zu verknüpfen. Also ausschlaggebend war nicht, dass sich das Wort wie in der Erwachsenensprache anhören oder ähneln musste, sondern dass die gleiche Äußerung in einem bestimmten Kontext bewusst angewandt wurde.

Wenn ihr Lust habt einmal selbst genauer zu beobachten, was euer Kind so macht und brabbelt, dann könnt ihr euch hier einen kurzen Beobachtungsbogen herunterladen (Disclaimer: diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist auch kein diagnostisches Instrument, sondern dient nur zur Orientierung. Falls ihr Sorgen oder Bedenken hinsichtlich der Entwicklung eures Kindes habt, bitten wir euch entsprechende Stellen (wie z.B. den Kinderarzt) zu kontaktieren).

Puh, der erste Meilenstein ist geschafft, das erste Jahr ist rum!

Es ist schon erstaunlich, was die kleinen Racker alles so leisten in den ersten 12 Monaten! Aber auch als Eltern darf man sich mal kräftig auf die Schultern klopfen. Denn es ist verdammt anstrengend der Aufmerksamkeit der Kinder zu folgen, ihnen sprachlichen Input zu geben, ohne dass viel zurückkommt. Ihnen immer wieder ein Sprachvorbild zu liefern und Raum zur Kommunikation zu bieten, um ihnen den Start in die Sprachentwicklung zu erleichtern. 

Falls ihr wissen wollt, was dann zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr passiert, dann lest einfach weiter und hört in unseren Podcast 2 rein.

2. Ihr Kleinkind im zweiten Lebensjahr: 13-24 Monate

Der Startschuss ist gegeben, wie geht es weiter? Ich erinnere mich gut, da waren nun endlich die ersten 3-4 Wörter da und ich dachte juhu, jetzt geht es so richtig los und wir können miteinander plaudern. Ja und dann dauerte es und dauerte es bis endlich das nächste und das übernächste Wort dazu kamen. Am Anfang geht es langsam und jedes neue Wort ist für die Kleinen harte Arbeit.

Die Wortfabrik nimmt ihre Arbeit auf

Schließlich müssen die Kinder beim Wortlernen viele Aufgaben gleichzeitig leisten: Sie sehen Menschen und Objekte in verschiedenen Kontexten. Sie müssen begreifen, wie diese miteinander in Beziehung stehen und was verschiedene Dinge bedeuten. Dabei spielen die Fragen “Wie sieht das Ding aus?” und “Was kann ich damit machen?” eine wichtige Rolle. So kann man z.B. einen Apfel essen, er ist rund,... eine Banane kann man auch essen, die sieht aber ganz anders aus. Beide liegen in der Küche in der Obstschale. Zudem hören sie einen Sprachschwall und müssen raushören, was denn davon nun zu dem Objekt “Apfel” oder “Banane” passt. Und wenn dann ein Begriff rausgehört und verstanden wurde, dann müssen sie sich noch eine Lautkette basteln, die sich so ähnlich anhört wie das, was die Tante gesagt hat. Da rattert es im Kopf: “hmm, sie hat mir wieder dieses gelbe krumme Etwas zum Essen angeboten, das kenne ich, so ein Ding liegt bei uns in der Küche. Was sie mir dazu gesagt hat, waren viele Laute. Gemerkt habe ich mir aber nur “Nane”, /n/ und /a/ kann ich schon sagen. /n/ kenn ich von “Nase” und /a/ von “Mama”. Also versuch ich es mal mit “nana”, wenn sie mir das nächste mal wieder sowas vor die Nase hält”. Und die Tante ist entzückt, wenn sie beim nächsten Besuch eine Banane aus der Tasche zaubert und der Neffe “Nana” brabbelt. 

Die kleinen Autoren legen los: Das Lexikon wächst und passt sich an

Wortbedeutung und Wortform von “Banane” wurden vom Kind verknüpft. Das neue Wort wird im Lexikon gespeichert. Beim Aufbau des Lexikons geht das Verstehen dem Sprechen voraus. Das heißt die Kinder können schon viel mehr Wörter verstehen als sie selbst produzieren können. Schon ab ca. 10 Monaten zeigen die Kinder ein Wortverständnis (oder auch rezeptiven Wortschatz), während die ersten gesprochenen Wörter (das nennt man den expressiven Wortschatz) erst mit ca. 12-13 Monaten zu erwarten sind. Wenn neue Wörter gelernt werden, gleichen die Kinder die neuen Lautketten mit Lauten, Lautkombinationen ab, die sie schon gespeichert haben (u.a. Graf Estes et al., 2016) . Darum lernen sie auch leichter neue Wörter, die sich so ähnlich wie bekannte anhören. Für diese haben sie schon Wortschablonen, die sie versuchen erneut anzuwenden oder leicht abzuwandeln. Mein Tochter Thorvi z.B. hat letztens beim Zubereiten unseres Kartoffelsalates geholfen. Eigelb und Eiweiß waren noch nicht in ihrem Lexikon abgespeichert. “Egg white” (wir sprechen Englisch zu Hause) war schnell begriffen, weil sie sowohl die Wörter “egg” als auch “white” kannte, “egg yolk” wurde “egg yoyo”, weil sie schon viele Male mit dem Yoyo ihres Bruders gespielt hat. Als ich ihr dann über korrektives Feedback mehrmals “egg yolk” vorgegeben hatte, fing sie an ihre Wortschablone anzupassen und nannte es schließlich “egg yolk”.

Und so werden die Äußerungen der Kinder mit der Zeit immer wieder aktualisiert, werden deutlicher und nähern sich der Erwachsenen-Wortform an. Ragnar bezeichnete sich am Anfang als “Nana”, dann “Nager”, gefolgt von “Rana” bis er schließlich “Ragnar” sagen konnte. Wörter werden auch innerhalb eines Gesprächs gemischt. So ist während es Kartoffelschälens die Kartoffel mal die “Papoffel”, mal die “Toffel” oder “Tatel”. Diese Variabilität in der Wortproduktion ist mit bis ca. 3 Jahre völlig normal und zeigt sich insbesondere bei längeren Wörtern oder bei Mehrwortäußerungen (vgl. Schäfer & Fox, 2006). Ich finde diese neuen Wortkreationen und Wortvariationen total spannend.

Falls ihr Lust habt Beispiele von euren kleinen Wortakrobaten zu teilen, schreibt mir doch ein Kommentar unter den Blogpost, ich würde mich freuen!

Wenn der Löwe zur Ziege wird - das Lexikon wird stetig überarbeitet

Die Oma spaziert mit der Enkelin durch den Zoo, mit großen Augen werden die Löwen beobachtet wie sie gemütlich vom Felsen zum Futterplatz spazieren, um sich ihr Mittagessen abzuholen. Danach geht es munter weiter zum Streichelzoo, wo die Ziegen genüsslich ihr Gras verspeisen. Die Enkelin zeigt freudestrahlend auf die Ziege und sagt “Löwe”. Huch, was ist denn da passiert? Das ist ein klassisches Beispiel einer Übergeneralisierung (oder Überdehnung). Die Bedeutungsmerkmale, die das Kind für den Löwen abgespeichert hat (hat 4 Beine, hat ein Maul zum Fressen) werden mit der gleichen Wortform (“Löwe”) verknüpft. Also alle Tiere, die 4 Beine haben und ein Maul zum Fressen, werden als “Löwe” bezeichnet. Es ist fantastisch, wie das Kind gelernt hat Merkmale bei verschiedenen Objekten zu erkennen und abzugleichen. Nun muss es lernen die Bedeutungsmerkmale auszubauen, zu differenzieren und unterschiedlichen Wortformen zuzuweisen. Der umgekehrte Fall kann auch eintreten (= Untergeneralisierung oder Unterdehnung). Zum Beispiel wird das Wort “Ball” nur mit dem weichen, gepunkteten Ball verwendet, den Onkel Jarek geschenkt hat. Hier muss das Kind lernen, dass alles Runde, was geworfen werden kann, auch ein Ball ist, unabhängig von Größe, Farbe oder Herkunft. Naja oder fast, damit ist natürlich nicht die Orange oder Deko-Glaskugel auf dem Wohnzimmertisch gemeint. Also ihr seht, Bedeutungen, Funktionen und Begriffe lernen ist nicht einfach. Und wir alle erweitern und vertiefen unseren Wortschatz ein ganzes Leben lang (ich habe kürzlich gelernt, was man unter Bioenergetics versteht, was ist denn euer neuster Eintrag im eigenen Lexikon? Schreibt mir einen Kommentar unter den Blogpost, ich bin gespannt).

Beim Erwerb von neuen Wörtern (Erweiterung der Wortschatzbreite) und der Ergänzung von Informationen zu einem Begriff (Erweiterung der Wortschatztiefe) können Eltern und Bezugspersonen einen wichtigen Beitrag leisten. So lernen wir z.B., dass es mehr als nur einen Bär gibt, sondern Koalabären, Pandabären, Eisbären (Wortschatzbreite) und wir können mehr Informationen zu Koalabären sammeln. Zum Beispiel habe ich gerade nachgelesen, dass Koalas bis zu 20 Stunden schlafen, um Energie zu sparen, das ist noch länger als Faultiere.

Falls ihr mehr darüber erfahren möchtet wie ihr euer Kind dabei unterstützen könnt mehr Wörter und vertieftes Wissen zu erlangen, schaut euch Episode 3 und Episode 4 unseres Podcasts “Logopädie kompakt” an. 

Apfel oder Pink Lady? - wer hat was im Lexikon?

Wenn wir mit unseren Kindern reden, dann stellt sich die Frage, welche Wörter wir denn am besten nutzen, welche Wörter sie am besten lernen. Am Anfang eignen sich Wörter auf dem sogenannten Basislevel einer Kategorie, weil sie gut erfasst oder erlebt werden können. So kann man einen Apfel anfassen, an ihm riechen, ihn essen. Zu erklären, warum manche davon Pink Lady heißen, wird dann schon schwieriger (hm, wer sich den Namen wohl ausgedacht hat?!). Diese Unterbegriffe lernen wir später, unvollständig oder auch nie …. Mir fallen neben Pink Lady, Granny Smith und Gala gerade keine weiteren Apfelsorten ein.

Die Oberbegriffe kommen auch zu einem späteren Zeitpunkt dazu, wenn wir zum einen mehr Wörter kennen und diese besser sortieren müssen und zum anderen auch unser Verständnis von Bedeutungen weiter ausgereift ist. Bis unser Trockner kaputt ging wusste ich auch nicht den Unterschied zwischen Ablufttrockner, Kondenstrockner und Wärmepumpentrocker. Und ich bin mir sicher, dass ich das auch wieder ganz schnell vergessen werde. Denn wie häufig wir Wörter nutzen und die Motivation gewisse Begriffe und deren Bedeutung lernen zu wollen, spielen eine wichtige Rolle im Aufbau des Lexikons. Ich wünschte, ich teilte die Motivation meines Sohnes alle Charaktere von Thomas und seine Freunde auswendig lernen zu wollen. So formen sich unsere Lexika im Kopf auch sehr individuell, abhängig von den Dingen und Menschen, die uns umgeben, und welche Erfahrungen wir machen. Oder wer hätte schon gedacht, dass 2020 auch schon Zweijährige das Wort (Corona)Virus und Maske in ihrem Wortschatz haben würden (wenn Thorvi Einkaufen spielt, fragt sie erst einmal nach ihrem Mund-Nasen-Schutz, was eine verrückte Welt!). 

Taube oder Flamingo? - was steckt in eurem Lexikon?

Wie schon erwähnt, wir lernen Dinge aus unserem Umfeld und von den Erfahrungen, die wir machen. Daher lernen Menschen ganz unterschiedliche Dinge. Wenn ihr eure Augen schließt und euch einen Baum vorstellt, was seht ihr da? Wie sieht der Baum aus? Meine Vermutung ist, dass es so etwas wie eine Kastanie, Tanne oder der Kirschbaum aus dem Garten ist. Eine Baumart jedenfalls, die in unseren Breiten häufig vorkommt und die ihr regelmäßig seht.

Die Antwort fiele sicherlich anders aus, wenn wir Menschen in Ägypten oder auf Bali fragen würden. Diese für uns typischen Vertreter einer Kategorie nennen wir Prototypen. Und so lernen Kinder zuerst die Prototypen ihrer Umwelt und erweitern ihre Kategorien immer mehr um spezifischere Vertreter. Nächstes Mal, wenn ihr per Videochat mit einer Freundin sprecht, bittet sie doch mal ein Stück Obst oder ein Werkzeug aufzumalen. Mal gucken, was dabei herauskommt. 

Hund, bellen oder wuschelig? Welche Wortkategorien gibt es im Lexikon?

Nun ging es viel um das Benennen und lernen von Objekten (Nomen, wie Ball). Aber es werden noch eine Vielzahl von anderen Wortarten erlernt. So sind zu Beginn interaktive Wörter wichtig, wir begrüßen uns mit “Hallo” und antworten auf Fragen mit “ja” (oder viel häufiger noch mit “nein” - ich möchte nicht wissen, wie oft meine Kinder das am Tag hören oder mir selbst um die Ohren wirbeln). Eigennamen sind auch von Bedeutung. Neben den Namen der Familienmitglieder “Mama” und “Opa”, tauchen auch Kita-Kameraden und Spielzeug-Gefährten auf (welches eurer Kinder hat Chase, Rubble, Skye und Marshall von Paw Patrol fest im Wortschatz verankert?). Lautmalereien dürfen auch nicht vergessen werden. Eine Bekannte von mir war besorgt, dass ihr Kind mit 2 Jahren nicht viele Wörter sprach und beklagte sich, dass er immer “tatütata” zur Feuerwehr sagte. Sie war erleichtert zu hören, das dies auch ein klarer Lexikon-Eintrag war, den ihr Sohn abgespeichert hatte. Relationale Wörter wie “da” und “auf” oder “zu”  finden auch häufig Anwendung, wenn die Kinder mit uns interagieren. Sie helfen ihnen und uns die Umwelt zu beschreiben und Dinge in Beziehung zu setzen . Interjektionen (oder auch Ausrufewörter) sind ebenfalls zu beobachten. Ragnar, als er noch in eine englische Kita ging, kam schon früh mit dem Ausruf “oh dear” nach Hause und fand vielzählige Gelegenheiten diesen anzuwenden. Ich wiederum muss mich immer wieder beherrschen, dass nicht ungewollte Ausrufe wie “oh Sch..eibenkleister” in das Vokabular meiner Kinder Einzug findet (als Ragnar vergebens versuchte ein Bauteil in ein anderes zu stecken und er dies verbal mit “bloody hell” begleitete, rangen bei mir die Alarmglocken und ich wusste, es ist an der Zeit meine eigenen Ausrufe besser unter Kontrolle zu kriegen). Wenn anfangs die Nomen dominieren, so kommen mit der Zeit weitere Wortklassen hinzu, u.a. Adjektive wie “groß” oder “müde”, und natürlich Verben. Hier werden anfangs häufig die sogenannten GAP (general-all-purpose)-Verben verwandt. Mit “haben, geben, machen, kommen” lassen sich viele unterschiedliche Aktionen und Situationen verbalisieren. Weitere Verben sind allerdings notwendig, um die Handlungen im alltäglichen Leben genauer zu beschreiben (“Papa tanzen”) und Wünsche zu kommunizieren (Apfel essen”). Tipps, wie ihr kommunikative Situationen schaffen und den Wortschatz eurer Kinder erweitern könnt, findet ihr in unserem Podcast “Logopädie kompakt” Episode 3 und Episode 4.

Wortschatzexplosion - wenn die Sprachentwicklung so richtig in Fahrt kommt

Nachdem sich die kleinen Racker am Anfang schwer getan haben Wörter zu erwerben, kommt es dann zu einem deutlich gesteigerten Zuwachs an Wörtern. Generell geht man davon aus, dass Kinder mit 18 Monaten ca. 50 Wörter sprechen können, mit 2 Jahren ca. 200 Wörter.

Auf einmal schnappen Kinder Wörter auf, die man so nebenbei erwähnt hat und man wundert sich, was sie sich alles gemerkt haben. Also aufgepasst, welche Wörter ihr euren Lieben präsentiert :-). Meine Freundin war verdutzt als ihre Tochter nach einem Nachmittag Kochen mit Tante Blanca immer wieder vergnügt das Wort “Knoblauchpresse” wiederholte (mein kleines Wortlern-Experiment war geglückt ;-)). 

Falls ihr jetzt nach dem Lesen dieser Richtwerte Stressflecken bekommen habt und denkt “herrje, wir kommen nie im Leben auf 50 oder 200 Wörter”, denkt daran, es gibt viele  individuelle Lernverläufe, bei machen Kindern kann man ein schnelles und sprunghaftes Ansteigen von Wörtern beobachten, bei anderen ein graduell lineares oder ein treppenförmiges Muster (siehe Kauschke, 2015, für eine Übersicht). Nichtsdestotrotz lohnt es sich achtsam zu beobachten, ob die Kinder einen vermehrten Anstieg an Wörtern zeigen, da Studien belegen konnten, dass der frühe Wortschatzerwerb eng mit dem späteren Erwerb von Wörtern und der Grammatikentwicklung zusammenhängt (Rowe et al., 2012). So ermöglicht ein erweiterter Wortschatz dem Kind Wörter zu kombinieren und erste Mehrwort-Äußerungen zu produzieren. Und die Kombination von Wörtern beginnt dann auch um das 2. Lebensjahr herum (Szagun, 2007).

Mir raucht der Kopf - was meint sie nur!? die Aussprache ist unverständlich

Nun habe ich viel zu den verschiedenen Wörtern erzählt, die die Kinder produzieren, aber wie sieht es denn mit der Aussprache aus? Oft stehen wir rätselratend vor unserem Kind und versuchen zu entziffern, was es uns mitteilen möchte. Ich sehe Thorvi vor meinem inneren Auge, wenn sie merkt, dass ich sie nicht verstanden habe. Dann wiederholt sie das Wort nochmal und nochmal. Sie merkt, ich kapiere nicht, was sie sagen will. Sie wird lauter, langsam mischt sich Unmut in ihren Wortklang. Schließlich wird sie wütend und verzweifelt. Puh, das sind schwierige Momente und es trifft mich jedes Mal ins Herz, wenn ich merke, wie aufgebracht sie ist. Ich versuche dann aus dem Kontext zu schließen, was sie meint und das zu wiederholen, was ich verstanden habe (z.B. “wir sehen hier im Buch einen Hasen, meinst du den Hasen?).

In unserem Podcast 3 von “Logopädie kompakt” sprechen wir über solche Kontexte und was man machen kann, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Auch wenn diese Augenblicke stressig und frustrierend sind, so sind sie in dem Alter normal und kein Grund zur Sorge. Die Verständlichkeit verbessert sich im Laufe der Zeit und in der Regel mit dem 3. bis 4. Lebensjahr sind die Kinder in der Lage deutlicher zu artikulieren. Dabei müssen wir bedenken, dass wir unsere Kleinen noch besser verstehen als andere Bezugspersonen (wie Erzieher) oder gar als Fremde. Verständlichkeit ist auch abhängig von der Situation. Wenn wir auf dem Teppich sitzen und ein Angelspiel spielen, ist es wahrscheinlicher, dass wir in einen solch engen Kontext verstehen, was das Kind sagen will. Im Gegenzug ist es beim gemeinsamen Einkauf im Supermarkt fast unmöglich herauszufinden, über welches der vielen bunten Dinge gerade gesprochen wird (zudem müssen alle Neben- und Störgeräusche ausgeblendet werden, die das Hören des Gesprochenen erschweren, siehe z.B. McLeod, 2020). Wer sich einen Überblick verschaffen möchte über die Verständlichkeit seines Kindes, der kann sich kostenlos die folgende Skala zur Bewertung der Verständlichkeit herunterladen (Intelligibility in Context Scala-German). 

Falls ihr die Skala verwendet, beachtet bitte Folgendes: Der aus der Einschätzung entstehende Wert dient der Orientierung, dient aber nicht als diagnostischer Wert, es kann anhand der Skala keine Bewertung vorgenommen werden, ob der Grad der Verständlichkeit therapeutischer Intervention bedarf. Falls ihr euch unsicher seid, ob euer Kind außergewöhnlich undeutlich spricht, wendet euch an euren Kinderarzt oder holt euch sprachtherapeutischen Rat.

“Tuchen batten, teine Nane” - wie Kinder die Aussprache vereinfachen

Aber warum ist das Gesprochene denn so undeutlich? Zum einen kann die Betonung von Wörtern anders sein als man es erwarten würde (dies kann insbesondere der Fall sein, wenn Kinder mehrere Sprachen erwerben und die Wortbetonungen sich in den Sprachen unterscheiden). Zum anderen unterscheiden wir verschiedene Prozesse bei der Wortbildung, die vonstatten gehen und die die Aussprache beeinflussen. Das klassische Beispiel der “Banane”, die zu “Nana” oder “Nane” wird, habe ich schon erwähnt, hier ist die Wortstruktur betroffen, ganze Silben werden ausgelassen. Das sind Äußerungen, die sich besonders am Anfang der Sprachentwicklung zeigen. Es kann auch sein, dass nur die Silbenstruktur betroffen ist, d.h. Teile einer Silbe hinzugefügt oder ausgelassen werden: Der “Bagger” wird zum “Agger”, das “Telefon” wird zum “Telefo” oder die “Blume” wird zur “Bume”. Zudem gibt es Ersetzungsprozesse, d.h. ein Laut wird durch einen anderen ersetzt (auch systemische Prozesse genannt). Eine sehr häufige Ersetzung ist die Vorverlagerung von “k” zu “t”, der “Korb” wird zum “Torb” oder die “Karotte” zur “Tarotte”.

Häufig beeinflussen auch Laute innerhalb eines Wortes oder innerhalb einer Äußerung die Produktion (das nennt man Assimilation). Da wird aus “Dackel”  “Daddel”, weil das “D” am Anfang sich auf die Wortmitte überträgt und das “k” ersetzt.

Fazit

So, nun hab ich euch so einige Theorien und Fachwörter um die Ohren gehauen. Ich hoffe trotzdem, ihr fandet es spannend einen Abriss über diese erste Zeit der Sprachentwicklung zu bekommen. In den nächsten Wochen und Monaten werden weitere Blogeinträge zu unterschiedlichen Themen rund um die Sprache, das Sprechen und die Kommunikation folgen. Falls ihr benachrichtigt werden wollt, wenn es etwas Neues gibt, könnt ihr unten auf der Seite unseren Newsletter abonnieren. 

Falls ihr Fragen oder Anmerkungen habt oder eure Erfahrungen mit uns teilen möchtet, nutzt die Kommentarfunktion am Ende des Blogs oder kontaktiert uns über das folgende Kontaktformular. 

Nun denn, lasst es euch gutgehen und bleibt gesund und munter!

Eure Blanca

Referenzen

Fasolo, M., Majorano, M., & D'Odorico, L. (2008). Babbling and first words in children with slow expressive development. Clinical Linguistics and Phonetics, 22(2), 83-94. 

Fox-Boyer, A., & Schäfer, B. (2015). Die phonetisch-phonologische Entwicklung von Kleinkindern. In S. Sachse (Ed.), Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen - Kleinkindphase (pp. 39-62). München: Elsevier.

Graf Estes, K., Gluck, S. C.-W., & Grimm, K. J. (2016). Finding patterns and learning words: Infant phonotactic knowledge is associated with vocabulary size. Journal of Experimental Child Psychology, 146, 34-49. doi:http://dx.doi.org/10.1016/j.jecp.2016.01.012

Kauschke, C. (2015). Frühe Entwicklung lexikalischer und grammatischer Fähigkeiten. In S. Sachse (Ed.), Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen - Kleinkindphase. München: Urban & Fischer.

Mampe, B., Friederici, A. D., Christophe, A., & Wermke, K. (2009). Newborns' cry melody is shaped by their native language. Current Biology, 19, 1994-1997. doi: 0.1016/j.cub.2009.09.064

McLeod, P. (2020). Intelligibility in Context Scale: Crosslinguistic use, validity, and reliability. Speech, Language and Hearing, 23(1), 9-16. 

Morris, S. R. (2010). Clinical application of the mean babbling level and syllable structure level. Language, Speech, and Hearing Services in Schools, 41, 223-230. 

Nathani, S., Ertmer, D. J., & Stark, R. E. (2006). Assessing vocal development in infants and toddlers. Clinical Linguistics and Phonetics, 20(5), 351-369. doi:10.1080/02699200500211451

Neumann, S., Schäuble, L., & McLeod, S. (2020). Skala zur Verständlichkeit im Kontext (ICS-G). Forum Logopädie, 34(4), 24-28. 

Rowe, M. L., Raudenbush, S. W., & Goldin-Meadow, S. (2012). The pace of vocabulary growth helps predict later vocabulary skills. Child Development, 83(2), 508-525. doi:10.1111/j.1467-8624.2011.01710.x

Schäfer, B., & Fox, A. V. (2006). Der Erwerb der Wortproduktionskonsequenz bei Zweijährigen: Ein Mittel zur Früherkennung von Aussprachestörungen? Sprache-Stimme-Gehör, 30, 186-192. 

Szagun, G. (2007). Langsam gleich gestört? Variabilität und Normalität im frühen Spracherwerb. Forum Logopädie, 21(3), 20-25. 

Yavas, M. (1998). Phonology: Development and Disorders. San Diego: Singular.

Bildquellen

Bild 1: Photo by Spencer Selover from Pexels

Zurück
Zurück

Sprachförderung im Alltag: Was Sie unbedingt wissen sollten

Weiter
Weiter

5 Fakten zur frühen Sprachförderung: So können Eltern ihr Kind bestmöglich unterstützen.