Entwicklung der Aussprache: Welche Hürden unsere Kinder überwinden müssen

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Wenn ihr wissen wollt:

  • Welche Voraussetzungen euer Kind benötigt, um Sprechen zu lernen

  • Welche Laute zu welchem Zeitpunkt erlernt werden

  • Ab wann Aussprachefehler therapeutisch behandelt werden sollten

Dann lest euch diesen Blogpost zur Entwicklung der Aussprache durch.

Ein Schwall von Lauten: Wichtige Merkmale gesprochener Sprache 

Wir kennen das von Aufenthalten im Ausland. Wir verlassen den Flughafen und tauchen in eine andere Sprachwelt ein. Ein Sprachschwall ergießt sich über uns und wir versuchen dem Gehörten irgendeinen Sinn zuzuordnen. 

Und das ist eine Mammutaufgabe, denn anders als geschriebene Sprache haben wir keine einheitlichen Pausen zwischen dem Gesprochenen. Gesprochene Sprache hat ein hohes Tempo, ein Durchschnittssprecher spricht 200 Silben pro Minute (Aitchison, 1992) und ich kenne mindestens eine Handvoll Menschen, die diesen Durchschnitt locker übertreffen. Ihr auch? 

Wie mit einer Machete versuchen wir den Schwall in kleinere Stücke zu hacken, um Teile zu verstehen. Ist es eine Sprache, die wir ein wenig verstehen und sprechen, mag es uns gelingen, das ein oder andere Wort herauszuhören. 

Dabei berufen wir uns auf die Laute, die wir von unseren Sprachen, die wir beherrschen, kennen. Und da kann es schon schwierig werden, denn auf der Welt gibt es rund 600 Konsonanten und 200 Vokale, von denen jede Sprache nur einen Bruchteil verwendet. So ist es also schwierig, Sprachen zu durchdringen, die wir nie gelernt haben. 

Wenn ich euch zweimal den gleichen Text vorspiele, einmal auf spanisch und einmal in slowakisch, dann werden die bei der spanischen Version klar im Vorteil sein, die Italienisch sprechen. Gleichzeitig werden tschechisch sprechende Zuhörer es einfacher finden, die slowakische Version zu entziffern. Wichtige Elemente sind hier Wörter, die in beiden Sprachen vorkommen oder zumindest einen ähnlichen Ursprung haben. Auch ähnliche prosodische Elemente spielen eine Rolle, wie z.B. die Intonation (Sprachmelodie). Spielt man den gleichen Hörern dann eine Version in Mandarin Chinesisch vor, werden wohl alle gleichermaßen ins Schwitzen kommen. 

Wenn es um den Zusammenhang zwischen Hörwahrnehmung und Sprechen geht, kennen wahrscheinlich viele das folgende Beispiel: Im Japanischen gibt es keinen Unterschied zwischen “r” und “l”. Daher hören sich Wörter wie “Rock” und “Lok” für japanisch sprechende Menschen gleich an. Umgekehrt fällt es ihnen schwer, die Wörter korrekt auszusprechen (“Rock” wird “Lok” ausgesprochen). 

Was wir nicht hören, können wir auch selbst nicht aussprechen. Das ist wichtig im Hinterkopf zu behalten, wenn wir uns die Entwicklung des Sprechens bei unseren Kindern anschauen. Oft sind wir sehr darauf fokussiert, was unsere Kleinen sagen, aber zunächst ist es wichtig herauszufinden, was sie denn eigentlich verstehen. Daher möchte ich erst einmal kurz auf die Sprachwahrnehmung eingehen. 

Sprache wahrnehmen: Es gilt 2 Probleme zu lösen

Die Kinder haben beim Zuhören 2 wichtige Probleme zu lösen. Sie müssen:

  1. Sprache segmentieren. D.h. sie müssen lernen, welche Laute in der Sprache relevant sind und wie sie von anderen Lauten/Geräuschen unterschieden werden. 

Studien zur Lautdiskriminierung geben uns faszinierende Einblicke in die Entwicklung der Hörwahrnehmung. Spannend ist, dass sich die Sprachwahrnehmung bereits im Mutterleib entwickelt. Ihr fragt euch wahrscheinlich, woher man das weiß. Es gibt tatsächlich Studien, die die Sprachwahrnehmung bei Neugeborenen erhoben haben z.B. mit Hilfe sogenannter Saugexperimente. Moon, Lagercrantz & Kuhn (2013) zum Beispiel haben schwedische und amerikanische Kinder wenige Stunden nach Geburt und erneut 75 Stunden später untersucht. Die Kinder hörten ihnen vertraute Laute und fremde Laute. Es wird angenommen, dass fremde Laute ein größeres Interesse bei den Kindern wecken und sie daher schneller am Schnuller saugen. Und sie hatten recht: bei verschiedenen Vokalvarianten aus der Muttersprache ließ sich keine erhöhte Saugrate feststellen. Anders bei den fremden Lauten. Hier erhöhte sich die Saugrate deutlich. 

Tsao, Liu und Kuhl (2006) haben in ihrer Studie Englisch- und Mandarin-sprechenden Kindern Lautkontraste aus dem Mandarin vorgespielt. In der Gruppe der 6-8 Monate alten Kinder ergaben sich keine Leistungsunterschiede. Das heißt unabhängig von ihrer Muttersprache konnten sie Laute gleich gut unterscheiden. In der Gruppe der 10-12 Monate alten Kindern übertrumpfen die Mandarin sprechenden Kinder die Englischsprachigen. Dies zeigt, dass Kinder ihre Hörwahrnehmung auf ihre Umgebungssprache ausrichten. Dies ist auch wichtig für die allgemeine Sprachentwicklung. Studien belegen, dass die frühe Sprachwahrnehmung mit späteren Sprachleistungen korreliert (Tsao, Liu, & Kuhl, 2004; Zhao et al., 2021; Mittag et al., 2021) und dass Kinder, die muttersprachliche Lautunterschiede besser unterscheiden können auch bessere Sprachfähigkeiten zeigten (Kuhl et al., 2005). 

  1. Mit Variationen in der Aussprache umgehen. Menschen sprechen das gleiche Wort immer wieder anders aus. Das könnt ihr ja mal ausprobieren: sagt 10x das Wort “Tischtennisplatte”. Ihr werdet merken, dass das Tempo, die Lautstärke und die Art, wie ihr die Laute im Mund bildet, variieren. Sprecht jetzt das Wort mal mit einem Stück Brot im Mund, oder wenn ihr quer über eine Wiese schreien müsst oder wenn ihr eurem Gesprächspartner das Wort leise ins Ohr flüstern wollt. Die Kinder müssen anhand der verschiedenen Produktionen lernen, welche Variationen akzeptabel sind und die das Wort nicht verändern und ab wann die Variation bedeutungsvoll ist. Versucht mal das “k” in Kasse immer ein Stückchen weiter vorne im Mund zu produzieren, irgendwann hört es sich eher an wie Tasse.  

Und so lernen Kinder mit der Zeit unwichtige Abweichungen in der Aussprache zu ignorieren und zu Mustern zu bündeln (siehe dazu auch Moon et al., 2013). 

Wer noch mehr die Theorie hinter diesen faszinierenden Mechanismen verstehen möchte, dem empfehle ich den Artikel von Patricia Kuhl (2010) zu lesen (die vollständige Referenz findet ihr unten in der Referenzliste oder folgt diesem Link, der führt euch zum Artikel - auf Englisch-, der frei zugänglich ist). 

Wie ihr eurem Kind helfen könnt Sprache zu verstehen!

Ihr könnt euer Kind unterstützen, indem ihr ein gutes Sprachvorbild seid. Ihr könnt helfen, dass es den Sprachschwall besser durchdringen und wichtige Elemente heraushören kann. Ihr fragt euch, wie ihr das machen könnt?! Dann lest euch meinen Blogpost zum Thema frühe Sprachförderung durch. Wichtige Stichwörter sind hier u.a. Sprechtempo, altersgerechte Sprache und Pausen. 

Dass der Einsatz von Elternsprache wirklich hilft, wurde in verschiedenen Forschungsarbeiten belegt. Eine aktuelle Studie von Ferjan Ramirez, Lytle und Kuhl (2020) zeigte zum Beispiel, dass ein Training, dass Eltern helfen sollte die Elternsprache besser einzusetzen, erfolgreich war. Nach dem Training war es den Bezugspersonen möglich, die Elternsprache besser umzusetzen. Auch konnte nachgewiesen werden, dass dieser verbesserte Sprachinput einen positiven Einfluss auf die Sprachentwicklung ihrer Kinder hatte.  

Für eine altersgerechte Entwicklung der Aussprache sind intakte Sprechorgane Voraussetzung 

Damit wir die 23 Konsonanten und 16 Vokale des Deutschen korrekt aussprechen können, brauchen wir viele intakte Körperteile:

  • Mund, Mundraum

  • Lippen

  • Kiefer

  • Kopf- und Gesichtsmuskulatur

  • Nase

  • Luftröhre

  • Lunge

Beim Sprechen kontrollieren wir, wie die Luft von den Lungen durch die Luftröhre und schließlich durch den Mundraum oder die Nase herausfließt. Wir nutzen all die genannten Körperteile, um verschiedenen Laute zu produzieren. Wir bekommen z.B. ein “m” hin, indem wir den Mund zu lassen und beim Ausatmen die Luft durch die Nase entweichen lassen. Beim “u” müssen wir die Lippen rund machen und den hinteren  Zungeteil in Richtung Gaumensegel anheben. 

Je nach Kiefer-, Lippen- und Zungenstellung kommen verschiedene Laute raus. Probiert es doch einfach mal und spürt nach, wo eure Artikulationsorgane liegen, wenn ihr ein “p”, “sch” oder “l” produziert.

Organische Aussprachestörungen

Wenn eines dieser Sprechorgane verletzt oder fehlgebildet ist, dann wird das die Aussprache beeinträchtigen. Dies ist z.B. der Fall bei Kindern mit Lippen-, Kiefer- oder Gaumenspalten oder Kindern mit Muskelschwächen. Aber auch schon ein einfacher Schnupfen wirkt sich auf das Sprechen aus. Wenn die Nase verstopft ist, können Laute wie das “m, n” und “ŋ” (wie in Ring) nicht mehr gebildet werden. 

Auch wenn das Hören über eine längere Zeit beeinträchtigt ist, z.B. durch eine angeborene Hörstörung oder eine chronische Mittelohrentzündung, können Kinder die Laute nicht richtig hören. Dies wirkt sich negativ auf ihre Aussprache-Entwicklung aus. Solltet ihr also Sorge haben, dass euer Kind nicht richtig hört, dann sprecht mit eurem Kinderarzt bzw. geht zum HNO-Arzt für einen Hörtest. Es ist besser das Hörvermögen frühzeitig abzuklären, bevor die Kinder in ihrer Entwicklung zurückfallen. Außerdem frustriert es sie auch, wenn sie im Alltag nur die Hälfte mitkriegen, weil die Ohren zu sind. 

Zu große Rachenmandeln können auch zum Problem werden. Es kann eine nasale Aussprache entstehen und sie können die Röhre, die den Rachen mit dem Mittelohr verbindet, verengen. Wenn sie sehr groß werden, kann es auch das Essen beeinträchtigen, weil sie wie ein Fremdkörper im Rachen sitzen. Mein Sohn hatte Probleme mit den Rachenmandeln. Sie wurden bei ihm  letztendlich entfernt. Zudem wurden Paukenröhrchen eingesetzt (kleine Röhrchen, die ins Trommelfell eingesetzt werden, um die Belüftung des Mittelohrs zu ermöglichen). Es war kein angenehmer Eingriff für Ragnar, aber es wird heute ambulant gemacht und die Kinder erholen sich schnell von der OP. Und das Gute ist, seither hatte Ragnar nicht wieder Ohrenprobleme und die Aussprache ist nicht mehr nasal. 

Warum Papa und Mama einer der ersten Wörter sind: Die Erwerbsreihenfolge von Lauten

Vokale werden von Anfang an produziert. Die ersten Konsonanten, die Kinder im 2. Lebensjahr i.d.R. erwerben, sind folgende: m, b, p, d, t, n. Dann verwundert es auch nicht, wenn die ersten Wörter häufig diese Laute beinhalten. 

Ab zwei Jahre kommen “w, h, s” (stimmhaft und stimmlos wie in Sonne und Bus) hinzu. 

Ende des 2. Lebensjahres folgen “f, l, j, ng (wie in Ring), ch (wie in Tuch), r, g, k, pf”. 
Ab dem 3. Lebensjahr sind es eigentlich nur noch die Zischlaute, die den Kindern Probleme bereiten, also “ch” wie in Licht, “sch” wie in Schal, “ts” wie in Zahn. 

Jetzt fragt ihr euch vielleicht, wie das sein kann, dass eure Kinder angeblich Kuchen sagen können müssten, aber immer noch munter vom “Tuten” sprechen. Das hat was damit zu tun, dass sich Kinder die Aussprache erst einmal vereinfachen. Darauf gehe in in den folgenden zwei Abschnitten ein. 

Der Tecker, Tetter, Kekker: Variabilität in der Aussprache

Zunächst hören die Kinder nur Teile von Wörtern heraus und speichern eine unvollständige Version davon ab. Häufig spricht man von so genannten Wortskeletten, weil zwar schon eine grobe Grundstruktur besteht, aber die genauen Details zur Produktion des Wortes oder der Lautabfolge noch fehlen. Z.B. mögen sie wahrnehmen, dass Krokodil drei Silben hat und irgendwo im Wort “k” vorkommt. Laute am Ende sind schwieriger zu hören, Konsonantenverbindungen sind schwierig auszusprechen. 

So mag am Ende “kokoki” herauskommen, wenn das Kind das Wort sagen möchte. Das Wiederholen von Silben haben sie ja während der Lallphasen ausgiebig geübt (wer noch einmal einen Überblick zu den ersten Lautproduktionen und Lallphasen möchte, kann sich gerne den Blogpost zur frühen Sprachentwicklung durchlesen). 

Dann mag es aber auch sein, dass das Kind “k” zu “t” vorverlagert, weil “t” früher erworben wird. Dies führt dazu, dass das Kind beim nächsten Mal “Totodil sagt”. Weil unbetonte Silben schwerer herauszuhören sind als betonte, wird auch gerne die unbetonte Silbe weggelassen, so dass nur “dil” gesagt wird. 

Diese variable oder auch inkonsequente Wortproduktion ist völlig normal und ist vor allem zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr zu beobachten. Während dieser Zeit verfeinern sie ihre Wortschablonen und die Variabilität nimmt ab. Mit Beginn des 3. Lebensjahres finden sich dann konsistente Vereinfachungen, die im nächsten Abschnitt beschrieben werden. 

Toffer statt Koffer: Wie Kinder die Aussprache vereinfachen

Die variablen Wortproduktionen werden durch die feste Vereinfachungen von Wörtern abgelöst. Die Kinder sagen dann z.B. immer “Sautelferd” anstatt “Schaukelpferd”. Aber was genau geschieht da eigentlich im Kopf der Kinder? Und welchen “Regeln” folgen sie, wenn sie Wörter vereinfachen? 

Wir unterscheiden 3 Gruppen von Vereinfachungen. Im Fachjargon spricht man von phonologischen Prozessen (siehe z.B. Fox-Boyer, 2014; 2011):

  1. Wortstruktur-Prozesse: Ganze Silben werden weggelassen, eingefügt oder ersetzt, z.B. Spaghetti wird zu “ghetti”, Laterne wird zu “terne”.

  2. Silbenstruktur-Prozesse: Teile der Silben werden weggelassen, z.B. Konsonanten am Ende eines Wortes, Gabel wird “Gabe”. Oder es werden Teile von Konsonantenverbindungen ausgelassen, Blatt wird “batt”, Wald wird “Wal”.

  3. Ersetzungsprozesse: Laute werden durch andere (leichter aussprechbare Laute) ersetzt, z.B. Katze wird “Tatze”, Schal wird “Sal”, Wange wird “Wanne”

Für das Deutsche gibt es eine Reihe an Normdaten, die uns eine grobe Richtlinie geben, wann diese Prozesse überwunden sein sollten, das heißt ab welchem Alter sie nicht mehr beobachtet werden sollten. Eigentlich sollten alle Kinder bis zu ihrem 4. Lebensjahr alle Prozesse überwunden haben. Manche mögen noch ein paar Schwierigkeiten mit den Konsonantenverbindungen haben, aber ansonsten können die Wörter alle korrekt ausgesprochen werden. Kinder, die phonologische Prozesse noch deutlich über diesen Zeitraum zeigen, sollten logopädisch behandelt werden. Zum Beispiel, wenn ein Prozess mit 3 Jahren verschwunden sein sollte und ein Kind ihn immer noch mit 3,6-4,0 Jahren zeigt, dann besteht Handlungsbedarf. 

Dabei muss man bedenken, dass dies für die Produktion auf Wortebene gilt (Logopäden untersuchen die Aussprache meist, indem sie Kindern Bilder zeigen und sie benennen lassen). In der Spontansprache treten noch Aussprachefehler auf, weil es viel schwieriger ist, ganze Sätze zu produzieren. Darauf gehe ich kurz im nächsten Abschnitt darauf ein. 

Wie bitte? Verständlichkeit in der Aussprache

Fischers Fritz fischt frische Fische… Fischers Fritz fischt frische Fische… na, wer ist schon hängen geblieben oder hat sich die Zunge verknotet? Nicht immer müssen wir so knifflige Sätze aussprechen, aber nichtsdestotrotz ist es keine leichte Aufgabe, Wörter aneinander zu reihen und ganze Sätze, gar Texte zu formulieren. 

Viele verschiedene Dinge müssen bedacht werden, wenn man etwas erzählen möchte. Zur Aussprache kommt noch der Inhalt dazu (Semantik, Lexikon), also was man sagen will, und wie es gesagt werden kann. Welche Worte man braucht und wie diese verknüpft werden können. Es müssen also grammatische Regeln beachtet werden. Zudem überlegt man sich, mit wem man spricht, wieviel Kontext derjenige braucht, um uns zu verstehen. Einfach zu sagen “Adira hat das gut gemacht” reicht nicht, wenn man Adira nicht kennt und nicht weiß, was sie eigentlich gemacht hat. 

Nun gut, so könnte man noch in weitere Details gehen, was alles beim Sprechen beachtet werden soll. Aber ich denke, es ist klar, dass unser Hirn ganz schön arbeiten muss, um gesprochene Sprache zu produzieren. Da kommt es schnell vor, dass man sich verspricht. Dabei beeinflussen sich häufig die Laute oder Wörter untereinander.  

Ein Beispiel für eine so genannte Assimilation meiner Tochter Thorvi war letztens Samami (anstatt Salami). Das “m” im Wort dominierte und beeinflusste die “l” Produktion (im Fachjargon regressive Assimilation genannt). Ragnar hatte verschiedene Versionen des Helikopters, eine davon war “Helikopker” (progressive Assimilation). Ein Beispiel auf Satzebene war bei ihm: “Der Bus sährt weg”, das “s” von Bus wurde verlängert und auf “fährt” übertragen. Manchmal werden Laute auch ausgelassen (so genannte Elisionen). Ein Beispiel dafür wäre: “Dann gehn (anstatt gehen) wir nach Hause” oder “Gudn Tag” (anstatt Guten Tag).

Das sind Phänomene die durch Co-Artikulation entstehen. Dass wir Wörter ineinander schleifen ist ganz normal und macht die Aussprache einfacher und auch natürlicher. Ohne Tonhöhenwechsel und Lautverknüpfungen würden wir uns abgehackt anhören wie ein Roboter. 
Umso komplizierter wird es für unser Hirn, wenn es mehrere Sprachen gleichzeitig verarbeiten und produzieren muss. In einem der kommenden Blogs wird es noch intensiver um Mehrsprachigkeit gehen. Im nächsten Abschnitt möchte ich aber schon einmal kurz auf die Aussprache bei multilingualen Kindern eingehen. 

Zając oder Hase? Multilinguale Aussprache-Entwicklung

Wenn Kinder mehr als eine Sprache lernen, müssen sie natürlich viel mehr Informationen verarbeiten und unterscheiden lernen, welche Laute und Worte zu welcher Sprache gehören. Dabei spielt natürlich das Umfeld der Kinder eine Rolle. Entscheidend ist, wie oft sie eine bestimmte Sprache hören. Ein Kind lernt eine Sprache schneller, wenn es diese Sprache regelmäßig hört. Auch die Qualität des Inputs spielt eine Rolle. Neben diesen externen Faktoren spielen interne Faktoren eine Rolle. Wenn ich meinen Mann und mich vergleiche, so kann ich ganz klar sagen, dass er ein größeres Talent für Sprachen hat als ich. Während ich in 12 Jahren in England meinen deutschen Akzent nie losgeworden bin, hat er auch keine Mühe damit gehabt, sich an lokale Akzente anzupassen. 

Wenn man sich nun die Entwicklung anschaut, kann man verschiedene Entwicklungsverläufe und Phänomene beobachten. 

Wie auch bei einsprachigen Kindern kann man nicht davon ausgehen, dass die Entwicklung immer linear nach oben geht, sich das Kind also stetig verbessert (z.B. Kim et al., 2017). Es mag Zeiten geben, da scheint das Kind die Sprachen nur so aufzusaugen und jeden Tag dazuzulernen, wie man die Wörter ausspricht. Und genauso gibt es Phasen, in denen die Entwicklung stecken bleibt oder man gar das Gefühl hat, einen Rückschritt beobachten zu können. Das ist völlig normal und sollte uns nicht beunruhigen. 

Es gibt die Diskussion, ob sich die unterschiedlichen Sprachen gegenseitig beeinflussen und wenn ja, in welcher Weise. Hier hängt es natürlich davon ab, welche Sprachkombinationen man sich anschaut. Es gibt Sprachpaare, die viele Merkmale und Laute teilen (wie z.B. Slowakisch und Tschechisch), andere Sprachen wiederum sind grundverschieden (wie z.B. Deutsch und Thailändisch). 

Was beobachtet werden kann, sind der Transfer von Aussprache-Merkmalen und -Regeln. Dies bedeutet, dass sich Elemente einer Sprache auf die andere auswirken. Im Deutschen z.B. wird das Standard-“r” anders produziert als im Türkischen. Hier kann es bei deutsch-türkischen Kindern zu Vertauschungen kommen. In Sprachen, in denen es keine Konsonantenverbindungen am Anfang von Wörtern gibt (wie z.B. im Koreanischen), kann es auch vorkommen, dass Koreanisch-Englisch-Sprachige einen Vokal zwischen die zwei Konsonanten einbauen, z.B. “ferog” sagen anstatt “frog” (siehe Kim et al., 2016). In welche Richtung der Transfer stattfindet, ist auch nicht festgelegt, wird wohl aber maßgeblich mit dadurch bestimmt, welche Sprache dominant ist. Die häufiger gehörte und gesprochene Sprache mag dann einen stärkeren Einfluss auf die weniger präsente Sprache nehmen. Wichtig ist im Kopf zu behalten, dass solche Transfer-Merkmale kein Anzeichen für eine Störung sind, sondern ein Merkmal von einem multilingualen Sprachgebrauch. 

Dann kann es sein, dass sich die Aussprache schneller entwickelt (Beschleunigung) oder langsamer (Verlangsamung). Auch hier ist es wichtig, nicht voreilig auf eine Aussprachestörung zu schließen. Daher ist es immer wichtig, sich die Aussprache in allen Sprachen, die ein Kind spricht, anzuschauen. Das ist nicht immer einfach, da es noch nicht zu allen Sprachen dieser Welt Studien gibt, die die Sprachen umfangreich beschreiben. Dadurch wird ein Vergleich und eine Einschätzung, ob das Kind sich altersgerecht entwickelt, erschwert. 

Wer einen Überblick über Studien gewinnen möchte, die die Aussprache in unterschiedlichen Sprachen erforscht haben, der sollte hier anfangen. Die von Sharynne McLeod und ihrem Forscherteam zusammengetragenen Daten zum Thema Aussprache und mehrsprachige Sprachentwicklung, sind sehr umfassend. 

Sharynne McLeod setzt sich auch dafür ein, dass Sprachentwicklung in einem multikulturellen und multilingualen Umfeld mit Achtsamkeit und Differenziertheit betrachtet werden sollte, insbesondere durch Sprachtherapeuten, die mit den Kindern arbeiten. Dieses Positionspapier gibt einen guten Überblick über die angestrebten Richtlinien (Hinweis: die Informationen sind auf Englisch). 

Das ist es zunächst einmal zur Aussprache im multilingualen Kontext. Wer mehr zum Thema Multilingualität wissen möchte, kann sich die Podcasts von “Logopädie kompakt” anhören. Katrin und ich beschäftigen uns in einer Mini-Serie mit dem Thema Mehrsprachigkeit. Auch werden ich spezielle Blogs dazu posten. 

Das Lispeln

Wer nun die ganze Zeit darauf gewartet hat, das ich etwas zum Lispeln (oder im Fachjargon Sigmatismus) sage, der sei auf einen meiner nächsten Blogs vertröstet. Kinder, die lispeln, haben keine sprachsystematischen Schwierigkeiten, d.h. sie lassen keine Laute weg oder vertauschen sie, sie haben Probleme, das “s” korrekt zu bilden. Daher spricht man hier von einer Arktikulationsstörung. Ein Lispeln ist bei vielen Kindern zu beobachten und besteht noch lange über den Abschluss der Ausspracheentwicklung hinweg. So zeigen noch rund ein Drittel der Fünf- bis Sechsjährigen ein Lispeln (Fox-Boyer, 2016). Und ich bin mir sicher, dass ihr auch genug Menschen aus eurem Umfeld kennt, die das “s” entweder an den Zähnen (addental) oder zwischen den Zähnen (interdental) produzieren. Ich habe meinen Sigmatismus noch bis 19 mit mir rumgetragen, weil sich niemand dafür interessiert hat und Logopädie noch nicht sehr bekannt war. 

Beim Lispeln mit zu beachten ist, ob die Kinder auch ein korrektes Schluckmuster haben und ob die Lippen-, Zungen- und Wangenmuskulatur ausreichend ausgebildet ist. Aber wie gesagt, dazu wird es noch mal einen extra Blogpost geben. 

Fazit

Wörter auszusprechen ist keine einfache Aufgabe:

  1. Kinder benötigen eine gute Sprachwahrnehmung, um das Gehörte aufschlüsseln zu können. Schon ab der Geburt sind die Kinder in der Lage, Laute zu unterscheiden und richten ihr Hören sehr früh auf die Umgebungssprache(n) aus. 

  2. Kinder lernen verschiedene Laute nacheinander auszusprechen, im 4. Lebensjahr sind es in der Regel nur noch die Zischlaute, die ihnen noch schwerfallen. 

  3. Dann sollten auch alle Vereinfachungen von Wörtern (auf Wortebene) verschwunden sein. Sollten sich weiter sogenannte phonologische Prozesse zeigen (z.B. das Ersetzen von bestimmten Lauten wie “Taffee” statt “Kaffee”) sollte genau hingeschaut und ggf. therapeutisch unterstützt werden. 

So, nun wird es euch wahrscheinlich wie mir gehen, wenn ihr das nächste Mal vor die Tür geht: ihr hört ganz genau, wie Leute sprechen und schnappt verschiedene Aussprachefehler auf. 

Falls ihr Beispiele aus eurer Umgebung kennt, dann erzählt mir gerne davon. Oder postet euren schwierigsten Zungenbrecher ;-). Ihr könnt die Kommentarfunktion unter dem Blog benutzten. 

Bleibt gesund und munter,

Eure Blanca

Referenzen

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Fox-Boyer, A. V. (2016). Kindliche Aussprachestörungen (7 ed.). Idstein, Germany: Schulz-Kirchner.

Kim, J.-H., Ballard, E., & McCann, C. M. (2016). Error analysis of Korean-English bilingual children’s speech productions. Clinical Archives of Communication Disorders, 1(1), 11-29. 

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MacLeod, A. A. N., Laukys, K., & Rvachew, S. (2011). The impact of bilingual language learning on whole-word complexity and segmental accuracy among children aged 18 and 36 months. International Journal of Speech-Language Pathology, 13(6), 490-499. 

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Mittag, M., Larson, E., Clarke, M., Taulu, S., & Kuhl, P. K. (2021). Auditory deficits in infants at risk for dyslexia during a linguistic sensitive period predict future language. NeuroImage: Clinical, 30, 102578. doi:10.1016/j.nicl.2021.102578

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Zhao, T. C., Boorom, O., Kuhl, P. K., & Gordon, R. (2021). Infants' neural speech discrimination predicts individual differences in grammar ability at 6 years of age and their risk of developing speech-language disorders. Developmental Cognitive Neuroscience, 48, 100949. doi:10.1016/j.dcn.2021.100949

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